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Let the adventure begin

48 Stunden aus dem Leben einer unerschrockenen, experimentierfreudigen, wachen  und auch im fortgeschrittenen Alter noch übermütigen Lehrkraft….. wer Interesse hat, der möge bitte weiterlesen!

Dienstag,14.3.2023

Wir fahren nach England mit dem Zug – Premiere! Wer hatte eigentlich diese Idee??? Ich hätte alle Kollegen, die vor drei Jahren in der Gesamtkonferenz für diesen Vorschlag gestimmt haben, ja gern mitgenommen. ICH gehörte nicht dazu.

Aufstehen, 5:00 Uhr. Die Üstra und Busse in und um Hildesheim und Hannover streiken. Ich gehe 30 Minuten zu Fuß zum Lehrter Bahnhof – die S3 fährt. Schon mal gut!

In der Schule fehlt eine Kollegin, ich soll kurzfristig bei den Sprechprüfungen einspringen. Ich sage nein, ich (wir drei Begleitpersonen) vertreten schon eine kranke Kollegin bei der Austauschfahrt und unterrichten nach Plan an diesem Reisetag. Es tut mir leid. Irgendwann muss es auch mal reichen. Ach so, wir sind ja sowieso leicht ausgebremst, weil Bettina, unsere Cheforganisatorin und versierte, transkontinentale Multibahnfahrerin mit unerschütterlicher Zuversicht und positiver Grundeinstellung leider krank zu Hause bleiben muss. Aber die Standleitung nach Berlin, wo sie krank das Bett hüten muss, steht..

Vier Stunden Unterricht (!), bei vorhergehendem (oder spontan auftretendem) Leerlauf oder überhaupt irgendwie zwischendurch Fahrkarten und Reservierungen für 40 Personen – Hin- und Rückfahrt – durch 3 Länder sortieren, eintüten, schülerfertig zum Austeilen machen. Sicherheitskopien anfertigen…. Lukullisches Nudelmahl in der Schule, extra früher für uns gekocht. (Ein später Dank an das Cafeteria-Team!) Ansagen an die Schüler zum Ausfüllen des Interrailtickets, alle Pässe kontrollieren, Teller wegräumen lassen….

Um 12:15 Abmarsch mit Gepäck zum Hauptbahnhof Hildesheim, Fußweg mit Wochengepäck. Wir kommen trocken hin, dann wird es kalt und regnet in Strömen.

Wir haben viel Zeit, ist aber auch nötig, weil jemand seinen Rucksack in der Schule vergessen hat. Egal, unsere Zeit hat Puffer. Einige rennen zurück zur Schule, den Rucksack zu holen. Derweil frieren wir inzwischen auf dem Bahnhof, der ICE nach Frankfurt hat jetzt 40 Minuten (!) Verspätung. Oje… Unsere Umsteigezeit im Frankfurt schmilzt….. erst von 45 Minuten auf 17, dann auf 6, dann auf 3. Dann scheint es aussichtslos. Wir fragen bei den Bahnbediensteten, checken online unsere Möglichkeiten. Schließlich fahren wir viel zu spät in Hildesheim ab. Der ICE von Frankfurt nach Brüssel ist ebenfalls verspätet, leider aber nur 3 Minuten.

Anschluß sehr fraglich, unser Problem: Der folgende Zug nach Brüssel hat ja keine Reservierung für uns mehr (40 Personen), Ankunft frühestens um 21:35, Teenager mit HUNGER und sehr große Zugauslastung, was eventuell bedeuten könnte – bis Brüssel im Gang stehen. Life is a challenge.

Wir norden unsere Schäfchen ein, der Brüssel ICE fährt hinter uns ein. Das heißt, wir haben keine ZWEI Minuten Umsteigezeit mit Gleiswechsel – Rolltreppe hoch, Rolltreppe runter – zwei ICE Teile, einer nach Amsterdam, einer nach Brüssel, 40 Personen, 40 z.T. Riesenkoffer. Und es bleibt ein Wunder, die Schüler sind toll (wir aber auch) – wir schaffen es TATSÄCHLICH! 8 von uns sitzen zwar im Amsterdamer Zug, der in Köln abgekoppelt wird. Dort ist aber ausreichend Zeit zum Umsteigen, was dann auch klappt.

Dank WhatsApp…..(was unser Dienstherr uns verbietet. Ein Diensthandy für Ausnahmesituationen wie diese sind für Lehrpersonal im Jahr 2023 auch gar nicht vorgesehen. Das wäre ja eine finanzielle und logistische Zumutung! Lehrkräfte werden schließlich gut bezahlt, da kann man sich seine dringend notwendigen  Arbeitsmittel wohl bitte selber beschaffen), ein Koffer gibt dann seinen Geist auf, was die Transportmöglichkeit und Rollen schwer beeinträchtigt. Naja, wir „flicken“ mit einem Kofferband; mit Schwersteinsatz läßt sich der Koffer bewegen.

Erster Teilerfolg für uns: fast pünktliche Ankunft in Bruxelles-Midi, Hotel ( „Ceci n‘est pas un hôtel“, sagt der Teppich im Meininger Hotel), fussläufig gelegen, ganz ok für eine Nacht. Einchecken mit 40 Personen, Zimmer verteilen, 8er, 6er, 4er, Jungen, Mädchen, Teenager sortieren, umplanen, Listen, Unterschriften…. Einverständniserklärungen der Eltern vorzeigen, damit wir mit 37 „mineurs“ überhaupt übernachten dürfen. Macht man nicht alles in fünf Minuten. Und die Essensfrage klären…

Nun denn, noch 16 Pizzen „ à la disposition“ im Hotel, 17 andere wollen keine Pizza. Und wir versuchen unser Glück in der Umgebung, landen in der Brasserie de la Gare und der Maître freut sich über einen Megaumsatz kurz vor Ladenschluß. 10 Pizzen gehen dann doch über den Tisch 😂, sonst Pasta. Wir Kollegen tauchen ein in unser multikulturelles Abenteuer und bestellen Moules/ Frites und ein gepflegtes belgisches Bier. Da ist schwer verdient! Ich bin seit 5:00 Uhr auf den Beinen – ohne Pause und mit der Verantwortung und Aufsicht für über dreißig Teenager. Der Schulleiter übernimmt die Rechnung der Schülerinnen und Schüler für die Getränke, Essen wird später (von uns – macht man ja auch gern schnell mal nebenbei) getrennt abgerechnet, damit der Maître endlich Feierabend machen kann. Es ist nach 22 Uhr. Soweit läuft es ja – die Schüler sind toll und super kooperativ, die Stimmung noch im grünen Bereich. Bonne nuit ein Belgique. 🌘✨

Mittwoch, 15.3.2023

Wecker um 5:30, Papiere sortieren, aktualisierte Fahrpläne online checken, Sachen packen.

Frühstück um 6:30, ganz lecker, mit Auswahl, Emilys Geburtstag angefeiert, die Schüler singen Happy Birthday und Bon Anniversaire für sie (mein französisches Herz geht auf), wir sind alle entspannt. Abmarsch um 7:15. Der Eurostar fährt am 8:52 ab, Annegret kennt sich aus, der Weg zum Terminal ist ja kurz, wir haben  alle Zeit der Welt. Wir sind entspannt, ausgeschlafen ( „ceci n’est pas un hôtel“ 😅). Da wußten wir noch nicht, was uns der Tag bringt.

Kurz danach Tränen, Verzweiflung und Wut: Ellas Rucksack, zwei Minuten unbeaufsichtigt, wurde im Eurostarterminal geklaut, alle beschäftigt mit Fahrkarten  ausfüllen. Tiens, was tun? Noch 40 Minuten (!) bis Schalterschluss, rennen ist schon wieder angesagt: Ella unter den Arm geklemmt, in Windeseile eine Polizeistation gesucht, nach drei Runden um den Block und 10 Fragen endlich gefunden. Weiß eigentlich jemand, wie schnell man mit 65 noch rennen kann? Mein letztes Sportabzeichen war noch im vorigen Jahrhundert. In Kurzform: Polizeistation geschlossen, mit Sprechanlage ohne Räsonanz, eine Schlange an Menschen, die Einlass begehren, warten schon – ein Paar sogar mit Termin und korrekter Telefonnummer. Die Sprechanlage hilft uns nicht weiter, telefonisch antwortet nur die Maschine. Meine Online Recherche bestätigt, dass eine Internetanzeige auch möglich sei. Warten macht da nicht so richtig Sinn, weil zwar das IPad weg ist, es aber keine Dringlichkeit der Anzeige gibt. Ella und ich eilen zurück zum Terminal Bruxelles-Midi, leider ohne erfolgreich zu sein. Glück im Unglück: Sie hatte ihren Pass, ihr Ticket und ihr Handy in der Hand. Also reisefähig….

Wir zwei werden im Schnellverfahren durch die Abfertigung geschleust – kurzes Zittern, ob ich Ella mitnehmen darf, weil ich nicht die Mutter bin und Kollegin Annegret die Unterschriften der Eltern bei sich  trägt. Aber französische Eloquenz hilft 😅… wir werden sehnsüchtig von den anderen erwartet.

Weiter im Programm:

Einsteigen, Tunnelfahrt – letzter kontinentaler Stop in Lille/ Frankreich. Ankunft St Pancras so gut wie planmäßig. Aber das nächste Abenteuer wartet schon, Streik bei Bus und U-Bahn in London. Wie kommen wir am besten von St Pancras nach Paddington?

Schüler schreiben im Gerummel (dringende???) WhatsApp Nachrichten. Gleich drehe ich durch …. Wäre es nicht schlauer, aufzupassen, Schilder und Anzeigen zu lesen, Lautsprecheransagen wahrzunehmen? Gelebtes Hör-Sehverstehen 😂… Naja, es reicht ja, wenn die Lehrkräfte das können.

40 Leute, Rushhour, Streik, Interrailkarte erst im Zug ausfüllen… sind alle da? Müssen wir vielleicht mit Gepäck 60 Minuten durch London laufen? Die ersten stöhnen schon. Busfahren  scheidet aus: 40 Personen passen NIE mit Koffern in einen Stadtbus.

Wir versuchen die „Tube“: 2 mal innerhalb Londons umsteigen, die Elizabethline läuft wider aller Erwartungen (wohl, weil sie neu, vollautomatisch, d.h. fahrerlos ist? Da ist niemand, der streiken kann.). Wunderbar. Wieder mal Glück im Unglück gehabt. Alles ad hoc Entscheidungen…minütliches Umplanen steht auf dem Programm.

A short while later…. Alle kommen tatsächlich in Paddington an – wir schleusen unsere Schäfchen durch alle Scanner, der Paddington Bär wird fotografiert. Erste englische Experimente beim Einkauf. Gehen die alten Pfundnoten noch? Sushi, crisps and what not….Geld tauschen ja oder nein, Klo ja oder nein… same procedure! Frau Bittner, wo ist hier das Klo? Alles mal 40 (rechnet sich halt besser 😜)

Eine Gepäck-Wagenburg in der Halle gebaut, neue Ansage: Drei bis vier Leute bewachen immer die Koffer und Rucksäcke. Von Diebstahl haben wir erstmal die Nase voll.

Einstieg in den Zug nach Exeter, keine Reservierung, die Verbindung ist gut besucht, das Gepäck muss irgendwie in Ecken gequetscht werden. Die Schüler sind toll, verständnisvoll und sehr kooperativ. Ankunft planmäßig, nach einigen Tränen, verschwitzt und müde.

Es nieselt in Exeter, aber die Luft ist mild und fühlt sich für mich nach „nach Hause kommen“ an. Die englischen Kolleginnen erwarten uns an St. David‘s – mit leicht belustigtem, aber auch bedauerndem Blick (Seid ihr eigentlich wahnsinnig??) – Wer hatte überhaupt diese Idee mit der Bahnfahrt?

Ich kann mich zu meiner großartigen Idee, Lehrerin zu werden nur beglückwünschen. In nur 48 Stunden tobt das pralle Leben – dauerhaft. Mit allen Höhen und Tiefen. In meinem Berufsleben gab es unzählige dieser 48 Stunden Episoden. Das bietet kein anderer Beruf in dieser Intensität.

Mein offizielles Tagebuch endet hier, weil ich sonst ein Buch hätte schreiben können – es gab übrigens dazwischen eine beeindruckende Woche in großer Gastfreundschaft (a grateful THANK YOU for a very warm hospitality to our English collegues) – aber auch noch eine ebenso abenteuerliche Rückfahrt, diesmal mit Übernachtung in Lüttich. Vielleicht schreibe ich doch noch mal einen Bestseller – einen Titel habe ich schon.

Anne Bittner

Studiendirektorin

Im Mai 2023

Text und Fotos: A. Bittner