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100. Geburtstag von Guy Stern

Guy Stern – Vorbild für uns alle

Das Scharnhorstgymnasium ist mit Guy Stern eng verbunden und ihm zur Dankbarkeit verpflichtet. Guy Stern ist der Schulgemeinschaft durch seine im Nationalsozialismus von Seiten der Lehrer- und Schülerschaft erlittene psychische und physische Gewalt und das damit verbundene Leid, wie durch die der Schulgemeinschaft gegenüber gelebte Geste des Verzeihens und sein Mahnen im Kampf gegen Antisemitismus und das Ringen um Haltung gelebtes Vorbild.

Im Alter von zehn Jahren wurde Günther Stern Ostern 1932 als Schüler auf dem damals noch so benannten Andreas-Realgymnasium aufgenommen. Er war ein guter Schüler, sang im Schulchor und hatte enge Freundschaften in der Schule und auch außerhalb. Mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Januar 1933 endete die unbeschwerte Zeit unvermittelt. Lehrer und Schüler des Andreas-Realgymnasium als Vorgängerschule des Scharnhorstgymnasiums stellten sich nicht vor Guy Stern und seine jüdischen Mitschüler Fritz Palmbaum und Robert Schönenberg. Im Gegenteil: Die Kinder wurden von schulischen Aktivitäten, wie z.B. den öffentlichen Auftritten des Chors, ausgeschlossen und auch in der Klassengemeinschaft ausgegrenzt. So wollten Mitschüler und enge Freunde Guy Sterns indoktriniert durch NS-Propaganda und bestärkt durch ihre Elternhäuser, keinen Kontakt mehr zu ihm. Im Unterricht und auf dem Schulhof gab es immer stärker werdende Diskriminierungen durch die Lehrerschaft und Mitschüler. Letztere schreckten auch vor tätlichen Angriffen nicht zurück. Trotz dieser Erfahrungen besuchte Guy Stern, wie auf seinem Abgangszeugnis vom 2. Oktober 1937 nachzulesen ist, die Schule “regelmäßig”. Er ließ sich durch Diskriminierung und Ausgrenzung nicht unterkriegen und strebte nach Wissen. Mit dem Satz “Sein Streben ist anzuerkennen.” klingt im Abgangszeugnis sogar ein Hauch von Bewunderung an. An anderer Stelle des Zeugnisses wird allerdings der Zynismus der damaligen nationalsozialistischen Schulleitung deutlich. Dort heißt es, dass Guy Stern aus der Schule am 30.September 1937 “ausscheidet, um ins Ausland zu gehen.” Hierbei handelt es sich um die in der Schülerakte erwähnte “Auswanderung [nach] Nord-Amerika”. Guy Sterns Vater hatte diese seinem Sohn ermöglicht, damit dieser der Diskriminierung und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland entgeht. 

Als Heranwachsender und Schüler musste Günther Stern im Alltag und insbesondere auch am Scharnhorstgymnasium größte Momente der Ausgrenzung und Beschämung erleiden. Als Mensch ist er mit seiner Größe des Vergebens und seinem Einfordern von Erinnerung und Haltung gegen Antisemitismus für unsere Schülerinnen und Schüler wie auch alle Lehrkräfte Vorbild und Leitbild für den eigenen Umgang mit Antisemitismus, Extremismus und Ausgrenzung in unserer Gesellschaft.

Seine Großherzigkeit der Schulgemeinschaft des Scharnhorstgymnasiums gegenüber zeigte Guy Stern, indem er sich im Jahr 2017 anlässlich eines Besuches in der Schule symbolisch wieder in die Schulgemeinschaft aufnehmen ließ und die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des Ehemaligenvereins der Schule annahm.

Guys Sterns innere Verbundenheit und damit wichtigste Bedeutung für unsere Schule liegt aber in der Tatsache begründet, dass ihm die Schülerinnen und Schüler dieser Schule am Herzen liegen. Bei seinen wiederholten Besuchen seit dem Jahr 2003 hat er stets den direkten Kontakt mit den Schülerinnen und Schülern gesucht. Er hat sie in Vorträgen, Gesprächen und Fragerunden an seinem Schicksal teilhaben lassen. Stets war und ist es dabei Guy Sterns Anliegen, unsere Schülerinnen und Schüler selbstreflektiert die Wichtigkeit des persönlichen eigenständigem Engagement gegen Antisemitismus, Ausgrenzung und Diskriminierung erkennen zu lassen.

Er fordert von uns als Schulgemeinschaft stets eine aktive Auseinandersetzung mit Antisemitismus auch über den Unterricht hinaus. Mit seiner von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt übernommenen Lebensmaxime “The only thing we have to fear is fear itself” fordert er von der gesamten Scharnhorstschulgemeinschaft das selbstständige Einnehmen eines aktiven öffentlichen Eintretens gegen Unterdrückung und Ausgrenzung und für Demokratie und Toleranz. Sein Vorbild ist uns dabei Mahnung und Stärke, dies auch in unserer Gegenwart zu tun. Einer Gegenwart, in der Demokratie und Menschenrechte nicht selbstverständlich sind; wir vielerorts in und außerhalb Deutschlands Intoleranz und Meinungsmache wieder auf dem Vormarsch sehen und wir als Einzelne und Gesellschaft dagegen vorgehen müssen.

Guy Sterns Bedeutung liegt dabei für mich persönlich darin, dass er allen Menschen, die ihm zuhören und ihn erleben, zeigt, dass Angst, Zurückschrecken und Wegschauen bei Unrecht und Gewalttaten kein gangbarer Weg ist, sondern dass jeder Mensch als bewusst handelndes Wesen durch sein Eintreten gegen diese Untaten und Gewalttätigkeiten einen Unterschied für sich und andere machen kann und muss.

Guys Sterns Wirken besteht darin, unermüdlich zu zeigen, dass jeder Mensch sich selbst in seinem Tun und Handeln hinterfragen muss, was die eigene Weltsicht und den eigenen Umgang mit seinen Mitmenschen angeht. Den Schülerinnen und Schülern gegenüber hat er dies bei seinem vorletzten Besuch am Scharnhorstgymnasium im Jahr 2018 mit den Worten “Seid sensibel für sprachliche Verirrungen. Sie sind Zündstoff für künftige Verfolgungen.” verdeutlicht und sie zu einem sensiblen Umgang mit ihrer Sprache aufgefordert, um Alltagsrassismus und -antisemitismus aus Gedankenlosigkeit heraus zu erkennen, zu vermeiden und bewusst zu begegnen.

Sein Schicksal, seine innere Stärke und Haltung ausgedrückt in seinen Worten und Taten, fordern von uns ein, dass wir erste Anzeichen für Unterdrückung stets erkennen, aktiv gegen diese vorgehen und uns mit unserer ganzen Person für unsere Mitmenschen und ihre Freiheiten einsetzen. Nur so ist, wie Guy Stern es vorlebt, gesellschaftliche und persönliche Freiheit möglich.

Marcus Krettek, OStD (Schulleiter Scharnhorstgymnasium)

Guy Stern zu Besuch am Scharnhorstgymnasium (2018)